Kurzgeschichte Teil 1: „Dorfladen für Tüwkow?“
Folge Eins
Der Wind war kalt und ich las diesen Zettel. Mit diesem Zettel würde hier die Welt untergehen.
Der Zettel hing am schwarzen Brett neben der Linde, an der bei uns in Tüwkow der Brotwagen hält. Dienstags und freitags, so gegen Elf Uhr. Mal früher, mal später, aber unter dem Strich sehr verlässlich. Die alten Leute stehen dann schon bereit, ihren Beutel in der Hand, den Kragen hochgeschlagen bei diesem Wetter, und warten auf ihn. Im Sommer stehen neben ihnen in kurzen Hosen die Enkelkinder, die vom Taschengeld Bonbons und Gummikram kaufen.
Der alte Bernig, Bernig Senior, hat in seinem fahrenden Supermarkt natürlich nicht die Auswahl der Discounter, aber es fehlt nicht wirklich etwas. Brot Bernig, so hat er damals angefangen und hatte nur das Brot der eigenen Bäckerei im Wagen, die Backstube wurde schon von seinem Sohn geführt. Brot, Brötchen und zwei Sorten Blechkuchen. Keine Torten, die würden unsere schlechten Straßen nicht überstehen, sagt er. Dann kam nach und nach etwas Neues dazu, Milch, Aufschnitt, frische Sachen, Konserven, Zeitungen und so weiter. Alle sagen noch immer Brotwagen, aber für Tüwkow ist es ein Supermarkt in der Größe eines Kleinlasters.
Die alten Leute in Tüwkow haben nur diese Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Wir sind in einer Spirale aus Bevölkerungsrückgang und schlechter Infrastruktur, wie viele Dörfer in Mecklenburg. Zwei Drittel der Landbevölkerung kann nicht fußläufig einkaufen, habe ich neulich gelesen, wahrscheinlich bei uns in der Praxis.
Früher, sagen meine Eltern, gab es im Ort den Konsum und den Bäcker und den Fleischer. Da musste man nicht mit dem Auto los, um einzukaufen. Und man traf immer jemanden zum Schnacken, war informiert, war dabei und wusste, wer gerade bei irgendwas Hilfe brauchte. Jetzt gibt es nichts mehr im Ort, nur der Brotwagen hält zweimal die Woche, insbesondere für die alten Leute.
Meine Eltern, Karl-August und Inge, gehören dazu und gehen jedes Mal hin.
Ich wohne drei Häuser von den beiden entfernt und pendele zu der Praxis, in der ich als Physiotherapeut arbeite. Für mich ist Einkaufen also kein Problem, aber für meine Eltern und die anderen alten Leute.
Ich bin Mike, bin Mitte Fünfzig und hatte in meinem Leben eigentlich kein Abenteuer mehr geplant. Dieser Zettel vor mir sollte das ändern, ich las ihn gerade zum zweiten Mal.
Unser Konsum wurde nach der Wende geschlossen, dann machte dort ein Edeka auf. Daraus wurde dann ein Jahrzehnt später ein Spar-Markt, der hat vor ungefähr zehn Jahren auch geschlossen, weil er sich nicht mehr gerechnet hat. Der Bürgermeister und die Gemeindevertretung hatten noch versucht, das zu verhindern, aber Wirtschaft schlägt Gemeinschaft. Seitdem steht der Konsum leer und dunkel. Unter der letzten Reklame für Spar kann man noch den alten Konsum-Schriftzug erkennen, der jedes Jahr blasser wird. Auf der Bank vor dem Konsum sitzen im Sommer oft zwei alte Frauen in der Sonne, wie vor einem Denkmal.
Die Senioren sind häufig auf Einkaufen mit dem Bus angewiesen und auf Gefälligkeiten von Nachbarn. Wenn ich meine Eltern zum Einkaufen fahre, dann nehmen wir auch immer Nachbarn mit, das wird alles Tage vorher organisiert und abgesprochen. Das geht, ist aber nach acht Stunden Arbeit und eigener Fahrerei echt nervig. Und nicht alle haben Kinder im Ort, die sie fahren können. Die jüngeren Familien brauchen alle zwei Autos und müssen lange Fahrten in Kauf nehmen, einige sind deshalb schon weggezogen und mit jedem Wegzug werden wir als Standort für einen neuen Laden weniger interessant. Nicht, dass einer der Discounter in den letzten Jahren Interesse gezeigt hätte, für die sechshundert Leute in Tüwkow, mehr oder weniger, einen Laden aufzumachen.
Wenn es wenigstens Brot und Milch gäbe, aber hier gibt es gar nichts. In den Nachbarorten auch nicht.
Der Zettel raschelt im kalten Wind und ich las ihn zum dritten Mal. Der Brotwagen hat ihn dagelassen, der alte Bernig hat ihn vor einer halben Stunde an das schwarze Brett gepinnt. Sauber mit vier Heftzwecken, die er aus der Tasche seines weißen Kittels geholt hatte, eine an jeder Ecke. Die alte Frau Fröhm hatte neben ihm gestanden und mir gesagt, dass er dabei Tränen in den Augen hatte.
Mit dem Zettel informierte er seine treuen Kunden, dass er seine Fahrten Mitte nächsten Jahres einstellen wird. Aus Altersgründen kann er die langen Fahrten und die langen Tage nicht mehr leisten, einen Nachfolger hat er nicht gefunden. Sein Sohn wird mit der Bäckerei Bernig zwei neue Filialen in der Stadt eröffnen, aber die rollende Filiale wird den Betrieb einstellen. Bernig Senior bedankte sich für die vielen Jahre und die vielen treuen Kunden und hoffte, sich bis Mitte nächsten Jahren noch persönlich von möglichst vielen Kundinnen und Kunden verabschieden zu können.
Der Brotwagen kommt nicht mehr.
…wie es weiter geht, erfahren Sie morgen!
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